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- Mario

Von Strafe, Lob und anderen Dingen

In der Zeitschrift Schulverwaltung : Zeitschrift für Schulentwicklung und Schulmanagement wurde in Ausgabe 5/2011 ein Artikel von Klaus Kuhlmann, Gründungsmitglied von schulpsychologie.de, veröffentlicht. Eine Frage, die Eltern nach wie vor beschäftig wird im Artikel beantwortet:

Was tun, wenn das eigene Kind eine – oder schon wieder mal eine – schlechte Note mit nach Hause bringt? Sollten Eltern dann strafen, sollten sie trösten oder was sollten sie anderes tun?

VonStrafeUndLob

Zur Angleichung an die Konventionen zur Beachtung der Geschlechtervielfalt unserer Seite, haben wir diese im Artikel angepasst. Wir verwenden derzeit weibliche Pronomen mit ":" als Vielfaltszeichen und schließen mit diesen gedanklich alle Menschen ein.

Klaus Kuhlmann Schulpsychologe, Köln

Meist sehen Eltern nur das Versagen ihres Kindes und sind verärgert, enttäuscht oder gar verzweifelt. Wenige haben Mitleid mit dem Kind, denn: »Hätte mein Sohn mehr gelernt, wäre das Problem nicht aufgetreten.« Wie die schulpsychologische Praxis zeigt, können sich viele Eltern nicht vorstellen, dass ihr Kind bei einer schlechten Note mit vielen Problemen zu kämpfen hat:

  • Schlechte Noten machen Angst.
  • Die Mitschüler:innen könnten einen auslachen oder einen gar ausgrenzen. Schlechte Noten lassen Kinder daran zweifeln, ob sie überhaupt in der Lage sind, eine Schule mit Erfolg zu besuchen.
  • Schlechte Noten bringen die Sorge mit sich, die Lehrer:in könnte einen fallen- lassen bzw. einen für dumm halten. Schlechte Noten belasten oder zerstören gar die häusliche Geborgenheit; Liebesentzug droht.
  • Das Schlimmste aber ist, dass schlechte Noten den Glauben an die eigenen Leistungsmöglichkeiten u.U. für ein ganzes Leben zerstören können.

Das Elternhaus: noch ein Ruhepunkt?

Was für ein Gefühl muss es für ein Kind sein, wenn es in der Schule Stress hat, der zu Hause unvermindert weitergeht. Das Zuhause ist dann kein Ruhepunkt mehr, wo man zur Ruhe kommen und wieder Mut tanken kann. Die Angst des Kindes, die Eltern zu enttäuschen oder sie wütend zu machen und dadurch die elterliche Liebe und deren Anerkennung zu verlieren, ist viel größer.

Ein Kind das vorwiegend auf seine schlechten Schulnoten reduziert wird, ist wirklich zu bedauern, da es oft keine Möglichkeit hat, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Wer könnte bei dabei helfen, wenn nicht die Eltern?

Die Schüler:in - einsortiert in eine negative Schublade?

Die andere Seite des Problems sind die Lehrer:innen. Sie sind schon aus Überlebensgründen gezwungen, Vorfälle in Schubladen einzuordnen, um nicht von der Vielzahl der täglichen Vorfälle verfolgt zu werden. Zu diesen Vorfällen zählen natürlich auch etwaige schlechte Leistungen von Schüler:innen. Schnell ist es dann passiert, dass eine Häufung von schlechten Leistungen zu meist langlebigen Einschätzungen führen, gegen die eine Schüler:in kaum ankommt.

Entweder wird sie als falsch auf dieser Schule eingestuft, oder sie bekommt das Etikett, faul zu sein. Oder aber sie ist lernunwillig, oder aber es handelt sich um ein verwöhntes Kind, das nicht gelernt hat, sich etwas zu erarbeiten usw. Unsere Einschätzung einer Situation bestimmt unser Handeln. Wenn man dazu bedenkt, dass eine solche Lehrer:inneneinschätzung selten den Eltern und noch seltener der Schüler:in bekannt ist, so kann man sich vorstellen, dass eine Schüler:in kaum eine Chance hat, aus der einmal zugeordneten Schublade wieder herauszukommen.

Die Schulleistung: Zutrauen verleiht Flügel

Unter solchen Umständen wird dann eine gute Leistung zu einem Zufallstreffer – oder zu einer Leistung, die eigentlich die Nachbar:in oder die Eltern erbracht haben. Hier gilt das Gleiche, was auch bei vielen anderen Dingen entscheidend ist, nämlich die Deutung bzw. Bedeutung, die Außenstehende einem beobachteten Phänomen – hier einer guten Schulleistung – zuweisen.

Bei solchen Dingen scheint der Sport mittlerweile pädagogischer mit Problemen umzugehen, als dies in manchen Schulen geschieht. Im Dezember spielte im Deutschen Fußballpokal Bayern München gegen Werder Bremen. Das Spiel endete 2:1 für München. Man muss dabei auch wissen, dass eine solche Niederlage den Verlust etlicher 100.000 Euro bedeutet. Nach dem Spiel wurde der Präsident des Vereins interviewt und u.a. gefragt, wie es denn jetzt weitergehe. Seine Antwort: »Wir müssen jetzt die positiven Dinge herausarbeiten.« Natürlich spielte dabei eine Rolle, dass alle Zuschauer sehen konnten, dass die Spieler aus Bremen wirklich gerackert hatten.

Eine Schüler:in hat es da schon schwerer zu zeigen und zu beweisen, dass Wille und Bereitschaft vorhanden ist, dafür zu arbeiten. Wer sieht schon, dass sie verzweifelt mit seinen Aufgaben kämpft; es sei denn, die Mutter sitzt daneben. Aber selbst das ist wieder problematisch, da in solchen Fällen die Schüler:innen vor allem lernen, dass die Mutter den Stoff beherrscht und gut ist. Ein Gewinn für das eigene Selbstvertrauen ist das nicht.

Im Sport – um auf diesen Vergleich zurückzukommen – scheint es bei jeglichem Versagen vor allem eine Frage für die Trainer:innen zu sein (Eltern, Lehrer): Wie kann ich meiner Sportler:in wieder aufbauen? Wie kann ich ihm zeigen, dass ich an sie glaube und hinter ihr stehe? Dazu gehört in vielen Fällen eine emotional neutrale Analyse des Wettkampfes und der vorgeschalteten Trainingsarbeit. Aus einer solchen Analyse lassen sich dann Lehren für die weitere Arbeit ziehen. Für viele Schüler:innen gibt es eine solche Analyse nicht, da die Erwachsenen ja meist schon wissen, was geschehen ist.

Es grüßen die Schubladen. Kein Kind will schlecht sein. Keinem Kind ist es egal, ob es schlecht ist oder gut. Meist machen sich Kinder, vor allem nach schlechten Klassenarbeitsergebnissen, mehr Vorwürfe, als sich dies die Eltern, aber auch die Lehrer:innen vorstellen können.

Ermutigung: vor allem für Kinder

Die Vorhaltungen der Eltern sind meist nur ein weiterer Aufguss des Gleichen und Ausdruck ihrer Hilflosigkeit. Hier wäre es nun wirklich angebrachter, das angeknackste oder gar zerstörte Selbstvertrauen des Kindes wieder aufzubauen. Wem würde es schaden, wenn z.B. Eltern – unabhängig von der nun einmal existierenden schlechten Note – ihr Kind trösten, ihm ein Trostgeschenk machen und es in den Arm nehmen würden?

So notwendig es für die Erwachsenen ist, sich abends den Ärger von der Seele reden zu können, umso notwendiger ist es für Kinder, im Zuhause einen Ort zu haben, wo sie die Bedrohungen durch die Schule erst einmal abstreifen können.

Fast alle Erwachsenen stehen in irgendwelchen Arbeitsverhältnissen, in denen sie tagtäglich Leistung erbringen müssen. Falls es einmal zu einer Ermahnung durch die Vorgesetzte kommt – Noten gibt es ja nicht – sind viele so Ermahnte verärgert oder gekränkt, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen. Hierbei geht es um Erwachsene, bei denen man davon ausgehen sollte, dass sie zu einem gestandenen »Ich« gefunden haben. Wie viel problematischer ist eine solche Situation aber bei Kindern, die meist von außen definiert werden und nicht aus sich heraus, die erst noch zu einer passenden Selbsteinschätzung kommen müssen.

Was Du nicht willst, . . .

Könnte es solche Situationen nicht vereinfachen bzw. entkrampfen, wenn sich die Erwachsenen – am besten im Vorfeld – einmal überlegen würden, was sie sich von ihrer Vorgesetzten wünschen würden, falls sie Fehler gemacht haben? Und schon hätten sie eine gute Grundlage für das Verhalten ihrem Kind bzw. ihrer Schüler:in gegenüber.

Wichtig ist dabei aber auch zu erkennen, dass insgeheim in vielen Fällen die eigenen Kinder die Felsbrocken der elterlichen Wünsche und Erwartungen am Hals hängen haben. Mein Kind soll das schaffen, was mir das Leben versagt hat. Dabei spielt es oft keine Rolle, welche Wünsche, Erwartungen oder Sehnsüchte das Kind hat.

Ein Vater bemerkte einmal in einer Schulberatung: »Mein Vater hat mich zum Abitur geprügelt und dafür bin ich ihm heute dankbar. Mit meinem Sohn mache ich es genauso.« Was wird das wohl für ein Mensch, der nie die Freiheit hatte, sich für ein Lernziel selbst zu entscheiden? Führt nicht Lernzwang eher dazu, sich dem Zwang zu entziehen und Lernen als etwas zu sehen, was negativ besetzt ist?
Wenn Lehrer:innen davon träumen, ein Kind für ein bestimmtes Wissensgebiet zu entzünden, so dürfte das bei einem so gezwungenen Kind kaum gelingen. Welche zusätzlichen Schäden zurückbleiben bzw. entstehen, hängt weitgehend von der weiteren Umgebung eines solchen Kindes ab und davon, ob es Menschen gibt, die wieder aufbauen und Mut machen können.

Versagen hat Langzeitwirkung

Kinder wollen lernen und wollen gut sein. Was ist es, das – meist schon in der Grundschule – dieses Bestreben vieler Kinder sabotiert? Oft landen in Hauptschulen oder auch in Förderschulen Kinder, die durchschnittlich bis gut begabt sind - zuweilen sogar hochbegabte Kinder -, die aber den Glauben an gute schulische Leistungen längst verloren haben und sich eher darauf beschränken, erneute schulische Niederlagen möglichst zu vermeiden. Faul ist allemal besser als doof zu sein.

Um nochmal auf den Sport zurückzukommen. Noten wie in der Schule gibt es z.B. im Fußball für die einzelnen Spieler:innen nur in den Zeitungen. Die Vereine interessieren diese Noten wenig, denn ihnen geht es darum, die jeweiligen Leistungsmöglichkeiten zu fördern und auf den Platz zu bringen. Was für einen Sinn macht es, Schüler:innen, die oft schon unter einer »drei« zusammenbrechen, ihr Versagen immer und immer wieder unter die Nase zu reiben, bis sie gänzlich ihr Leistungsbewusstsein verloren haben?

Die meisten Erwachsenen haben es irgendwann geschafft, sich einer Benotung zu entziehen, obwohl sie eine Benotung viel besser als Kinder aushalten müssten. Werden sie trotzdem benotet, dann führt das nicht selten vor die Richter:in.

Darüber hinaus ergibt sich die Frage, was Noten eigentlich sollen. Sind sie dafür da, der Schüler:in möglichst genau zu zeigen, wo sie in diesem oder jenem Fach im Verhältnis zu den Mitschüler:innen steht? Wenn ja, mit welchem Ziel? Und wer benotet die intraindividuellen Fortschritte eines Kindes? Wer schaut auf das verfügbare Potenzial?

Fazit

Für die Schule und alle Beteiligten wäre es wichtig, Noten möglichst in den Hintergrund treten zu lassen und stets die Frage in den Vordergrund zu stellen: Wie kann ich ein Kind, das eine Niederlage einstecken musste, wieder aufbauen? Wie kann ich es neu motivieren?

In diesem Zusammenhang gewinnt die Aussage an Bedeutung, dass Eltern (Lehrer:innen) gar nicht soviel erziehen müssen, da die Kinder ihnen ohnehin alles nachmachen. Könnte diese Aussage nicht dazu führen, sich einmal Gedanken darüber zu machen, was mein Kind wohl von mir gelernt hat, um jetzt in dieser Situation zu sein?

Die Verschiedenheit der Köpfe ist das größte Hindernis aller Schulbildung.

Darauf nicht zu achten ist der Grundfehler aller Schulgesetze (Johann Friedrich Herbart).

Kuhlmann (2011) Von Strafe, Lob und anderen Dingen (pdf)