Hero Image
- Manu

Die Erschaffung der Schul-Welten

In der Zeitschrift Schulverwaltung : Zeitschrift für Schulentwicklung und Schulmanagement wurde in Ausgabe 7-8/2009 ein Artikel von Klaus Kuhlmann, Gründungsmitglied von schulpsychologie.de, veröffentlicht. Veränderung im Schulsystem und Gestaltungsmöglichkeiten in Schule - wiederkehrende Themen, die in Schule damals wie heute aktuell sind.

Zur Angleichung an die Konventionen zur Beachtung der Geschlechtervielfalt unserer Seite, haben wir diese im Artikel angepasst.

Es gibt eine Vielzahl von Redewendungen und Sprüchen, die auf die verschiedenste Weise zum Ausdruck bringen, dass der Mensch ein Produkt seiner Umwelt ist. Wir verwenden diese Sentenzen im täglichen Sprachgebrauch, oft ohne die Konsequenzen des Gesagten zu bedenken.

Klaus Kuhlmann Schulpsychologe, Köln

»Denn die Dinge, die wir erst lernen müssen, bevor wir sie tun, lernen wir beim Tun.«

Eine Konsequenz dieser aristotelischen Sentenz ist, dass wir da lernen, wo wir handeln. Dies bedeutet, dass unsere Lebensräume auch unsere Lernräume sind; oder anders: Wir lernen da, wo wir leben. Das hört sich zunächst banal an. Wo aber leben unsere Kinder? Natürlich zumeist in der Familie und in der Schule, aber auch auf der Straße, in Vereinen, in anderen Familien usw.

Nebenrechnung: Für eine Schüler:in der Primarstufe wird eine wöchentliche Stundenzahl von 27 Schulstunden angegeben, in der Sekundarstufe I circa 35 Stunden. Das sind im ersten Fall circa fünf Stunden und im zweiten Fall sieben Stunden pro Wochentag. Rechnet man circa sieben bis neun Stunden Schlaf dazu und die diversen Freizeitaktivitäten, dann zeigt sich, dass eine Schüler:in an den Wochentagen mehr aktive Zeit in der Schule als zu Hause verbringt.

Damit wird Schule zu einem Lernort, den wir an Bedeutung nicht unterschätzen dürfen. Gelernt werden dort nicht nur der Lernstoff, sondern auch soziale Fertigkeiten, Sehgewohnheiten, Alltagssprachschatz, Umgang mit fremden Erwachsenen und vieles mehr.

Lehrerinnen und Lehrer sind Vorbild

Geben Sie sich nicht so viel Mühe mit der Erziehung, die Kinder machen Ihnen sowieso alles nach.

Dieser Spruch deutet auf einen ersten Aspekt des schulischen »Lernangebotes« hin. Lehrer:innen sind während des gesamten Schultages, der gesamten Schulwoche, ja während der gesamten Schuljahre Vorbild dafür, wie man sich als Erwachsener verhalten kann oder sich verhalten muss. Kinder und Jugendliche übernehmen dann das Verhalten, das ihnen imponiert, meist ohne sich Gedanken über Konsequenzen zu machen.

Die Diskussion, ob die Schule wesentliche Erziehungsaufgaben hat, erscheint hier in einem noch ganz anderen Licht:

Schule kann nicht nicht-erziehen. Damit steigt aber die Bedeutung des Verhaltens einer jeden Lehrer:in.

Ist nicht sogar ein unterschwelliges »Lehrangebot« viel gefährlicher, da eine Reflexion über diese »weichen« Lehrinhalte nicht stattfindet, sondern sich bestimmte Verhaltensweisen unbemerkt einschleichen?

Denkt man diesen Gedanken konsequent weiter, so müsste es manchem Erwachsenen angst und bange werden bei dem Gedanken, für welches Verhalten man selbst unbemerkt den Grundstein gelegt hat. Der Ausspruch Henry Adams offenbart auf einmal eine beängstigende Doppelwahrheit:

»Eine Lehrer:in arbeitet für die Ewigkeit. Niemand kann sagen, wo ihr Einfluss endet.«

Schüler:innen bringen von zu Hause, aus Spielsituationen und aus Freizeitaktivitäten Verhaltensweisen mit, die im Schulalltag auf die Probe gestellt werden und die sich dabei als erfolgreich bestätigen oder die als nicht durchsetzbar zurückzunehmen sind. Von Bedeutung ist dabei, welches Verhalten offiziell sanktioniert wird und welches nicht. Oder anders:

  • Welche Verhaltensregeln und -normen gibt eine Schule vor?
  • Welche Werte sind in unseren Köpfen?
  • Wer sanktioniert wie unerwünschtes Verhalten?

Es ist wie im Sandkasten: Das Kind hat innerhalb des Sandkastens einen »Spielraum« – im wahrsten Sinne des Wortes – um vieles auszuprobieren. Die Grenzen dieses Spielraumes geben aber die Erwachsenen vor, denn Kinder können oft die Tragweite ausufernden Verhaltens oder grenzüberschreitender Aktivitäten nicht überblicken, da sie dies noch nicht gelernt haben; d.h.: Der Erwachsene muss da Verantwortung übernehmen, wo ein Kind überfordert ist.

Kann Schule solch ein Sandkasten des Ausprobierens und der Erprobung eigenen Verhaltens sein? Ist Schule auch bereit, Verantwortung zu übernehmen, wo der Spielraum einer Schüler:in diese überfordert?

Miteinander gestalten

»Wir erzeugen die Welt, in der wir leben, buchstäblich dadurch, dass wir sie leben.« Maturana, der sich als Biologe auch mit Fragen der Gehirnforschung, der Psychologie, der Soziologie und der Erkenntnistheorie auseinandergesetzt hat, hat eindrucksvoll beschrieben, wie alle Beteiligten einer sozialen Gruppierung – auch Schule ist ein solcher Lebensraum – quasi im Miteinander ihre jeweilige Welt erschaffen.

  • Wie klar ist es eigentlich unseren Schulen, dass sie wesentlich daran beteiligt sind, welche Welterfahrung an der jeweiligen Schule gemacht wird?
  • Mit welchen Weltbildern, gelernt in Elternhaus und Schule, formen die Kinder nach der Schule die Welt aus?

Dazu gehören soziale Umgangsformen genauso wie auch immer wieder gehörtes Gedankengut. Viele, vor allem ältere Menschen, stellen mit ungutem Gefühl fest, dass die heutigen Kinder und Jugendlichen, u.a. oft Lehrer:innen und andere Erwachsene, nicht mehr grüßen – was in früheren Zeiten selbstverständlich war und ein Nichtbeachten dieser Höflichkeitsform konsequent geahndet wurde. Gesellschaftliches Verhalten ändert sich durch die Generationen immer wieder. Wichtig ist aber festzuhalten, dass z.B. Elternhaus, Schule oder gar die Gesellschaft gegensteuern könnten, wenn sie denn eine klare Vorstellung von dem hätten, was erstrebenswert ist.

Die Werte beeinflussen, was wahrgenommen wird

Spitzer hat sich auch mit der Wahrnehmung des Menschen beschäftigt und ist so zu dieser Aussage gekommen. Hier könnte sich der einen oder anderen Leser:in ein Bezug zur gegenwärtigen Bankenkrise aufdrängen, in deren Vorfeld offensichtlich viele Dinge einfach nicht mehr gesehen wurden.

In einem anderen Zusammenhang wurde einmal festgestellt, dass unser Auge nur zu circa 30 Prozent das Gesehene repräsentiert und die restlichen 70 Prozent des anscheinend Gesehenen eine Konstruktion unseres Gehirns darstellen. Gerade dieses Beispiel verweist darauf, von welch entscheidender Bedeutung es ist, welche Werte und Sehgewohnheiten ein Mensch verinnerlicht hat. Aber nicht nur die Werte, sondern auch die gesamten Befindlichkeiten eines Menschen bestimmen das, was er sieht und wie er es sieht. Vielleicht kann dies zur Erklärung beitragen, warum manche Klassenräume und manche Schulhöfe nach der Schule oft aussehen, als habe es dort gerade einen Karnevalsumzug gegeben. Bei diesem Beispiel geht es zwar auch um die allzeit gelobte Ordnung, aber viel mehr noch um die Frage: Wie verändert solch ein Umfeld sowohl Schüler:innen als auch Lehrer:innen?

Man kann zuweilen in Zeitungen etwas darüber lesen, wie eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit das eigene Denken beeinflusst. Ein Phänomen, über das oft Politiker:innen berichten, die nach einiger Zeit der Zugehörigkeit zu diesem Berufsstand entdecken können (und es manchmal, aber selten, auch tun), dass man mit der Zeit Dinge normal findet, die man vorher empört von sich gewiesen hätte.

Oft bekommen wir es einfach nicht mit, wie wir uns Schritt für Schritt unserer Umwelt anpassen, egal ob es sich dabei um sprachliche Veränderungen, um Sehgewohnheiten oder Verhaltensweisen handelt.

Wenn wir Menschen aber so anpassungsfähig sind, um es einmal positiv auszudrücken, was bedeutet dann eine bestimmte Umgebung für unser Verhalten?

  • Fordert nicht eine Straße voller Dreck und Papier dazu auf, sich auch nicht die Mühe zu machen, nach dem nächsten Papierkorb zu suchen?
  • Ist nicht ein Boden voller Kaugummi fast eine Aufforderung, den eigenen auch einfach fallen zu lassen?
  • Muss man nicht auf einem Schulhof, wo ständig irgendwelche Rangeleien – wenn nicht mehr – stattfinden, entsprechend mitmischen, um dazuzugehören?

Diese Fragen sollen ganz allgemein dazu anregen, sich einmal zu fragen: Was bedeutet die Teil-Welt einer Schule für alle daran Beteiligten? In welchem Maße stricken wir als Schule mit daran, worüber wir uns dann bei unseren Schüler:innen aufregen?

Eigene Wirklichkeiten

»Was immer wir auch über diese Welt sagen, es sind Aussagen über unsere Erfahrungen.«

Es kommt auch an Schulen – wie überall da, wo menschliche Gruppierungen entstehen – dazu, dass Gruppierungen von Menschen sich miteinander eigene Wirklichkeiten schaffen.

Für die Schule wird es dann schwierig, wenn die Wirklichkeit einer Klasse oder eines Kollegiums mit dem Auftrag der Schule nichts mehr zu tun hat.

Vor einiger Zeit berichtete mir ein Kollege von einer Hauptschulklasse: Diese Schüler:innen kamen nur zur Schule, um gemeinsam »abzuhängen« bzw. weil Schule der beste Ort ist, an dem man zu gemeinsamen Aktivitäten zusammenkommen kann. Das Thema »Lernen« spielte keine Rolle mehr – was aber auch beinhaltet, dass nicht gelernt wird.

Oder: Eine Gymnasialklasse hatte sich für alle unbemerkt dahin entwickelt, dass der Sinn von Schule darin bestand, den Lehrer:innen als eifrige Schüler:innen aufzufallen und dadurch zu gefallen. Bei Fragen meldete sich regelmäßig die ganze Klasse, gegebene falsche Antworten wurden wiederholt, obwohl die Lehrer:in die Antwort schon beim ersten Mal korrigiert hatte. Die Lehrerschaft drohte zu resignieren, weil sie die Erfahrung machen musste, dass alle Pädagogik und Didaktik nicht half, den Schüler:innen Lernstoff zu vermitteln.

Angst vor Veränderung?

Hier ergibt sich die Frage: Welche Möglichkeiten gibt es, aus solchen Teil-Welten auszusteigen oder diese zu verändern? Hilfreich ist dabei eine Sicht von außen, da es für den Außenstehenden, der nicht an der Konstruktion der entsprechenden Teil-Welt beteiligt war, leichter ist, bestimmte Strukturen zu erkennen. Nicht umsonst grenzen sich deshalb viele Sekten auch konsequent nach außen ab, denn sie haben gar nicht den Wunsch nach einer Veränderung, sondern eher Angst davor.

Eine solche Angst vor Veränderung ist zuweilen auch bei Schulen zu beobachten, die allerdings vor allem Angst vor administrativen Veränderungen haben, weil damit nicht selten persönliche und meist ungeliebte Veränderungen einhergehen.

Teilweise also eine verständliche Angst. Über diese Ängste hinaus wird aber auch vielfach übersehen, dass z.B. eine Schule, ein Kollegium, eine Elternschaft sich einig darüber werden könnten, welche Teil-Welt sie an ihrer Schule installieren wollen.

Fazit

Schule ist für alle Beteiligten ein Lernort, an dem viel mehr gelernt wird, als zunächst offensichtlich ist. Ebenso deutlich ist aber auch, dass Schulen, wenn sie erst einmal diese "Lerninhalte" im Blick haben, viele Gestaltungsmöglichkeiten gewinnen.

Kuhlmann (2009) Die Erschaffung der Schul-Welten: Angst vor Veränderungen? (pdf)