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100 Jahre Schulpsychologie - Geschichte der Schulpsychologie

Dr. Gustav Keller präsentierte auf der Festveranstaltung "100 Jahre Schulpsychologie in Deutschland" einen Abriss der Geschichte der Schulpsychologie. Die komplette Rede können Sie im Folgenden auf unserer Seite lesen. Wir danken dem Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP - Sektion Schulpsychologie) und Dr. Gustav Keller für das zur Verfügung stellen dieser wichtigen Zeitdokumente.

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Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

es freut mich, zehn Jahre nach meiner Pensionierung über die 100jährige Geschichte der Schulpsychologie referieren zu dürfen - mit dem Fokus auf die Mannheimer Gründungsära.

Franz Kafka bezeichnete vor 100 Jahren die Psychologie als ein weites Feld, wenn man es begeht, wird einem schwindelig. Es hat so viele Parzellen. Ja das stimmt. Eine dieser Parzellen ist die Schulpsychologie. Diese kleine, aber sehr wichtige Profession ist ein Fachdienst im System der Schule.

Die Schule ist vor 5000 Jahren als hochkulturelle Institution gegründet worden. Dieser „Schulbeginn“ fand in Sumer statt. Dort hatte man ein Schriftsystem entwickelt, das zunächst informell in den Familien vermittelt wurde. Heutzutage würde man diese Vermittlung als Homeschooling bezeichnen. Während der Corona-Lockdowns kam mir immer wieder diese „Urschule“ in den Sinn. Im Lauf der Zeit wurde der sumerische Hausunterricht durch eine rationellere und systematischere Form der Kulturtechnikvermitt- lung ersetzt. Man engagierte schreibkundige Erwachsene, die an einem zentralen Ort Kindern das Lesen, Schreiben und Rechnen beibrachten. Aus der sumerischen Schul-Literatur, die auf 20000 Tontäfelchen archiviert ist, lässt sich ersehen, dass es schon damals Schulschwierigkeiten wie Lese-Rechtschreib-Schwäche, Rechenschwäche, Konzentrationsdefizite, Schulunlust und Disziplinstörungen gab.

Seit dem historischen Schulbeginn im heutigen Irak ist die Schule in den entwickelten Gesellschaften zu einer Pflichtinstitution geworden, die alle Kinder und Jugendliche durchlaufen müssen. Sie verbringen dort durchschnittlich 15 000 Stunden, bis sie ihr Abschlusszeugnis erhalten. Wie erfolgreich diese zentrale Entwicklungsaufgabe gemeistert wird, beeinflusst in starkem Maße die weiteren Berufs- und Lebenschancen, obwohl die Beziehung zwischen Schul- und Berufserfolg nicht ganz linear ist. Aufgrund der Lebensbedeutsamkeit von Schule stehen Schülerinnen und Schüler unter einem starken Entwicklungs- und Erwartungsdruck. Kindheits- und Jugendentwicklung ist ein komplizierter Veränderungsprozess. Nicht jedem Kind und jedem Jugendlichen gelingen die entsprechenden Entwicklungsschritte. Es kann in den kognitiven, emotionalen, motivationalen und sozialen Entwicklungsbereichen zu Verzögerungen und Problemen kommen. Kurz und gut: Jede schulische Individualentwicklung ist prinzipiell störbar. Dies lässt sich in allen Epochen der Schul-Problemgeschichte deutlich beobachten (Keller 1989, Keller 2014).

Dass Kinder und Jugendliche, die in schulische Entwicklungsschwierigkeiten geraten, spezielle Hilfe brauchen, war am Ende des 19. Jahrhunderts und am Beginn des 20. Jahrhunderts eine neue Erkenntnis und zugleich eine Forderung, die sich allmählich zu verbreiten begann. Störungen des Lern-, Leistungs- und Sozialverhaltens waren epidemisch verbreitet. So verließen beispielsweise in Mannheim in den Jahren 1877-1887 die Volksschule 80% der Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss, weil sie häufig sitzen blieben. Zehn Jahre später war diese Misserfolgsquote ein bisschen geringer, betrug aber immer noch 66%. In vielen Kommunen des Deutschen Reiches sah es ähnlich aus. Das Sozialverhalten war damals so schlecht wie das Lern- und Leistungsverhalten. Schülergewalt war gang und gäbe. Es kam auch immer wieder vor, dass sich die jugendlichen Aggressionen gegen Lehrpersonen richteten.

Dies alles trotz eines sehr strengen Schulregimes!

Das Schul- und Schülerelend verlangte nach professioneller Abhilfe. Die ersten Gründungsschritte in Richtung Schulpsychologie bestanden darin, in klinisch-psychologischen Einrichtungen Behandlungen für lern- und verhaltensgestörte Schülerinnen und Schüler anzubieten. Im angelsächsischen Bereich war ein Ursprungsort hierfür die Kinderpsychologische Klinik in Philadelphia an der Universität von Pennsylvania, die 1896 von Lightner Witmer gegründet wurde. Im deutschsprachigen Raum war es der Psychiater Walter Fürstenheim, der 1906 in Berlin eine mediko-pädagogische Poliklinik eröffnete.

Ein ebenso wichtiger Gründungsimpuls für den Einzug der Psychologie ins Schulsystem entsprang einem Problem, das im Gefolge der Einführung der allgemeinen Schulpflicht immer virulenter wurde. Für Schülerinnen und Schüler, bei denen das Lernpotenzial nicht ausreichte, um dem Normalunterricht zu folgen, mussten Sonderschulen eingerichtet werden. Für eine Sonderschulzuweisung benötigte man Testverfahren zur Messung der intellektuellen Leistungsfähigkeit. Der erste Auftrag zur Konstruktion eines Intelligenztests erging 1905 vom französischen Erziehungsministerium an Alfred Binet, der zusammen mit Théodore Simon den ersten fundierten Intelligenztest für Kinder entwickelte. Der Binet-Simon-Test war aber nicht nur für die Diagnose des sonderschulischen Förderbedarfs nützlich. Er machte auch eine testdiagnostisch fundierte schulpsychologische Beratung möglich.

Schließlich spielten auch Appelle aus der wissenschaftlichen Psychologie eine wichtige Rolle bei der Professionsentstehung. Am deutlichsten war jener von Professor William Stern, der 1910 in seinem

Zeitschriftenaufsatz „Das übernormale Kind“ den Begriff „Schulpsychologie“ kreierte und für eine intelligenzdiagnostisch fundierte Schullaufbahnzuweisung plädierte. Von ihm stammt übrigens der Begriff „Intelligenzquotient“. Ein Jahr später, auf dem ersten „Deutschen Kongress für Jugendbildung und Jugendkunde“ in Dresden, forderte er die Einstellung von Schulpsychologen.

Anfang Mai 1913 wurde mit Cyril Burt, dem späteren Begabungsforscher, weltweit der erste Schulpsychologe von der Londoner Stadtverwaltung eingestellt. Man wollte am Beginn des 20. Jahrhunderts im Schul- und Sozialwesen neue Wege beschreiten. Ein Ziel war die begabungsadäquate Förderung von Schülern, ein anderes Ziel die Prävention von Lern-, Verhaltens- und Kriminalitätsproblemen. Hierfür war aus politischer Sicht professionelles psychologisches Handeln vonnöten.

Zwei Jahre später wurde in den USA vom Bundesstaat Connecticut die erste Schulpsychologen-Stelle geschaffen. Inhaber war Arnold Gesell, der später Professor für Entwicklungspsychologie an der Elite-Universität Yale wurde.

Vor 100 Jahren, vier Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, wurde in Mannheim der erste deutsche Schulpsychologische Dienst eingerichtet und der erste deutsche Schulpsychologe eingestellt. Zur Biographie Hans Lämmermanns, des ersten deutschen Schulpsychologen, und zur Tätigkeit dieser ersten Beratungsstelle möchte ich einige wichtige Daten und Ereignisse in Erinnerung rufen.

Hans Lämmermann wurde am 31. Januar 1891 in Nürnberg geboren. Bereits während seiner Kindheit kam er mit seinen Eltern nach Baden. Er besuchte die Realschule in Lahr und anschließend das Lehrerseminar in Karlsruhe. Im Jahre 1908 trat er als Siebzehnjähriger in den Schuldienst ein und unterrichtete an verschiedenen badischen Volksschulen. Von 1914-1918 nahm er am Ersten Weltkrieg teil und wurde zweimal verwundet. Nach der Heimkehr setzte er seine Lehrertätigkeit fort.

Seine neue Dienststelle als Lehrer wurde die Mannheimer Volksschule, die damals von 80 % der schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen besucht wurde. Das differenzierte und flexible Schulsystem, das man in Mannheim 1901 einführte, wurde vom Stadtschulrat Anton Sickinger entwickelt. Sein Motto hieß: „Nicht allen das Gleiche, sondern jedem das Angemessene.“

Konkret und praktisch bedeutete dies, den unterschiedlichen Fähigkeitsniveaus unter dem gemeinsamen Dach einer humanen Volksschule gerecht zu werden. Es gab Haupt-, Förder-, Sprach- und Vorbereitungsklassen für den Wechsel in höhere Schulen. Der Wechsel zwischen diesen Schullaufbahnen war auf jeder Klassenstufe möglich. Das Mannheimer Schulsystem galt national und international als vorbildlich für den Umgang mit Heterogenität und wurde vielerorts adaptiert. Seit Beginn seiner Mannheimer Zeit qualifizierte sich Hans Lämmermann parallel zu seiner Lehrerarbeit in wissenschaftlicher Psychologie weiter.

Das Mannheimer Schulsystem wurde seit dem Herbst 1919 von Professor Wilhelm Peters, dem Leiter des Instituts für Psychologie und Pädagogik an der Handelshochschule Mannheim, wissenschaftlich begleitet. Dieser schlug dem Stadtschulrat Anton Sickinger die Schaffung einer Schulpsychologenstelle vor, weil das Institut sich nicht mehr imstande sah, diese Arbeit allein zu bewerkstelligen. Sickinger und Peters setzten sich beim Mannheimer Oberbürgermeister Theodor Kutzer für die Gründung dieser Dienststelle engagiert ein. Unterstützt wurden sie vom Leiter des schulärztlichen Dienstes, Dr. Paul Stephani, und vom Leiter der Beratungsstelle für Schwererziehbare, Dr. Julius Moses. Stephani war übrigens der erste hauptamtliche Schularzt in Deutschland.

Am 1. Juni 1922 wurde die Einrichtung einer Schulpsychologen-Stelle vom Mannheimer Stadtrat beschlossen und gleichzeitig vom badischen Unterrichtsministerium genehmigt. Der Dienstbetrieb der Beratungsstelle und das Dienstverhältnis von Hans Lämmermann begannen offiziell am 1.11.1922.

Die Lehrerschaft stand dieser Innovation zunächst skeptisch bis ablehnend gegenüber. Sie „witterten in dem Schulpsychologen einen neuen Vorgesetzten, sie fürchteten außerdem, dass von einer derartigen Einrichtung allerlei Störungen der Unterrichtsarbeit ausgehen könnten. Vor allem aber wurde die Ansicht vertreten, dass jeder Lehrer sein eigener Schulpsychologe sein müsse, dass das Psychologische ein so wesentlicher Bestandteil der Lehrerarbeit sei, dass es sich nicht davon abtrennen und besonders erledigen lasse.“ (Lämmermann 1929, S. 4).

Trotz dieses anfänglichen Akzeptanzproblems ging Hans Lämmermann mit großem Engagement an die Arbeit. Gemäß Dienstanweisung sollte der Schulpsychologe

  • für die Mannheimer Volksschule Erhebungen, Schülerbeobachtungen sowie psychodiagnostische Untersuchungen durchführen,
  • an der Berufsberatung mitwirken, im Bedarfsfalle durch Berufseignungsprüfungen,
  • konzeptionelle Fragen auf wissenschaftlicher Grundlage beantworten helfen,
  • die Lehrer bei der Lösung von Schülerproblemen begleiten und in besonderen Sprechstunden unterstützen.

Übersetzt man die Tätigkeitsmerkmale in die aktuelle Fachsprache, so war Hans Lämmermann Schullaufbahnberater, Einzelfallhelfer, Berufsberater, Systemberater und Handlungsforscher in einer Person. Um das komplexe Projekt zu bewältigen, musste der Beratungsdienst personell erweitert werden. Letzteres bedeutete, dass interessierte und befähigte Lehrer von Hans Lämmermann psychodiagnostisch weitergebildet wurden. Sie unterstützten ihn vor allem bei den umfangreichen Testuntersuchungen. Er traf sich mit diesen Lehrern regelmäßig in einer psychologischen Arbeitsgemeinschaft, um die diagnostische Arbeit zu planen und zu reflektieren. Im Grunde genommen war Mannheim somit nicht nur der Geburtsort der deutschen Schulpsychologie und des schulärztlichen Dienstes, sondern auch der deutschen Beratungslehrer. Mannheim war ein legendärer Ort der Schulinnovation.

Bei ihrer schulpsychologischen Arbeit bedienten sich Hans Lämmermann und sein Team eines Instrumentariums, das aus mehreren Testverfahren bestand und von einem hohen wissenschaftlichen Standard zeugte. Aus den Bewährungskontrollen geht hervor, dass das psychodiagnostisch fundierte Beratungsprogramm die Zahl der Schulversager deutlich verringern half.

Welche immense Arbeitsmenge zu bewältigen war, sei am Tätigkeitsbericht des Schuljahres 1930/31 aufgezeigt. Insgesamt wurden in jenem Berichtszeitraum 3729 Schüler untersucht – entweder einzeln oder in Gruppen.

Zur Testkonstruktion und zur Bewährungskontrolle der Schullaufbahnempfehlungen führte Hans Lämmermann in Kooperation mit dem Institut für Psychologie und Pädagogik eine ganze Reihe quantitativer empirischer Studien durch. Bei Professor Wilhelm Peters, der 1923 an die Universität Jena beziehungsweise ins Mekka der deutschen Reformpädagogik wechselte, promovierte er 1930.

Zieht man das Fazit aus den vielfältigen Tätigkeiten des ersten Schulpsychologischen Dienstes, so ist Beachtliches geleistet worden. Die anfängliche Aversion der Lehrerschaft kehrte sich im Lauf der Jahre in eine hohe Akzeptanz um.

Die erfolgreiche Mannheimer Schulpsychologie endete leider am Ende des Schuljahres 1933/34. Die Nationalsozialisten lösten die erste deutsche Schulpsychologische Beratungsstelle auf. Aus ihrer ideologischen Sicht waren für die Entwicklung von Schülern weniger psychologische Tests und Beratungen vonnöten, als vielmehr harte Erziehung und körperliche Ertüchtigung. Dies sind Erziehungsziele, die der Schulversager Adolf Hitler bereits in „Mein Kampf“ postuliert hatte. Außerdem waren die Nationalsozialisten der Meinung, dass eine solche Schulpsychologie zu sehr an den Juden Sigmund Freud erinnern würde.

Hans Lämmermann wurde in den Schuldienst zurückversetzt und unterrichtete an der Pestalozzi-Schule Mannheim Hilfsschüler. Endgültig aufgelöst wurde das Mannheimer Schulsystem 1935.

Professor Wilhelm Peters, der das Mannheimer Schulsystem anfangs begleitete und für mich der wissenschaftliche Vater der deutschen Schulpsychologie ist, wurde 1933 an der Universität Jena entlassen, weil er jüdischer Abstammung war. Er emigrierte zuerst nach Großbritannien und 1937 in die Türkei. Die Universität Istanbul berief ihn auf einen Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie. 1952 kehrte er als Emeritus nach Deutschland zurück.

Wie der Großteil der Deutschen unterlag Hans Lämmermann im weiteren Verlauf der dreißiger Jahre dem brutalen Konformitätsdruck der Nazidiktatur. Er trat in den Nationalsozialistischen Lehrerbund ein, dem 97% der deutschen Lehrerinnen und Lehrer angehörten. Seinen Veröffentlichungen ist zu entnehmen, dass er an Testuntersuchungen zur Identifikation von Schwachsinnigen beteiligt wurde, deren Daten von den Erbgesundheitsgerichten zur Sterilisationsentscheidung verwendet wurden.

In den Nachkriegsjahren, nach dem Ende der NS-Diktatur, wuchs wieder die Einsicht in die Notwendigkeit, die seelische Entwicklung und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen gezielt zu fördern. Die 1945 gegründete UNESCO nahm sich des Themas „Schulpsychologie“ an und führte 1948 hierzu eine Konferenz durch, an der 43 Länder teilnahmen.

Im Jahre 1948 erfolgte der erste Schritt zum Wiederaufbau der Schulpsychologie. Die Hamburger Polizeidienststelle „Schülerkontrolle“ wurde in eine „Schülerhilfe“ umgewandelt und mit Dr. Hans Kirchhoff der erste deutsche Schulpsychologe nach dem Zweiten Weltkrieg eingestellt. Nicht nur in Hamburg, sondern auch in anderen deutschen Großstädten wurden schulpsychologische Dienste eingerichtet, so zum Beispiel in Stuttgart und Heidelberg 1950, in Mannheim 1953, in Berlin und Hannover 1957, in Köln 1958 und Düsseldorf 1959.

Das Bundesland Hessen richtete ab 1953 als erstes Flächenland schulpsychologische Dienste ein, deren konzeptioneller Schwerpunkt die Beratung des Systems Schule war. Man sprach damals übrigens vom Hamburger Modell der Einzelfallhilfe und vom Hessischen Modell der Schulberatung.

1954 konferierte die UNESCO mit 19 europäischen Schulpsychologie-Experten in Hamburg, um die Weiterentwicklung der schulpsychologischen Dienste zu forcieren. Gleichzeitig wurde der Mindeststandard für die Schulpsychologen-Schüler-Relation auf 1:6000 festgelegt. Mit dem Versorgungsaufbau in Deutschland war man damals nicht zufrieden. Zurecht, denn er verlief sehr schleppend. 1965 zählte man bundesweit 106 Schulpsychologische Fachkräfte.

Nachdem der Heidelberger Professor Georg Picht 1964 in einer Artikelserie für die Wochenzeitung Christ und Welt den deutschen Bildungsnotstand ausgerufen hatte, begann 20 Jahre nach Kriegsende die Bildungsreform. Und davon profitierte auch die Schulpsychologie.

Hier in Baden-Württemberg begann 1966 der Aufbau einer speziellen Form der Schulpsychologie, die Bildungsberatung genannt wurde. Sie hatte das Ziel, durch intensive psychodiagnostische Schullaufbahnberatung die Ausschöpfung der Begabungsreserven voranzutreiben. Das Gründungskonzept erinnert stark an das Mannheimer Modell von Sickinger und Lämmermann. Gründungsvater der baden-württembergischen Bildungsberatung war der gebürtige Mannheimer Dr. Hermann Reichenbecher.

Die Forderung nach Verstärkung des schulpsychologischen Beratungsangebots hatte eine weitere Ursache. Es mehrten sich im deutschen Wirtschaftswunderland die Klagen über das negative Verhaltensbild vieler Schülerinnen und Schüler. Empirische Erhebungen bestätigten den negativen Eindruck. So führte der Pädagoge Professor Hans-Christian Thalmann Mitte der sechziger Jahre eine viel zitierte Studie über Verhaltensstörungen im Grundschulalter durch, nach deren Ergebnissen 20% der damaligen Grundschulkinder gravierend verhaltensgestört waren.

1973 verabschiedeten die Kultusministerkonferenz und die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung die Empfehlungen zur „Beratung im Bildungswesen“. Zentrales Ziel war, das schulische Beratungssystem flächendeckend auszubauen. Die Versorgungsquote von schulpsychologischen Fachkräften zur Schülerzahl sollte bis Ende der achtziger Jahre 1:5000 betragen. In den westdeutschen Bundesländern verlief der Ausbau der schulpsychologischen Beratung aufgrund unterschiedlicher föderal bedingter Strukturen, Ressourcen und Prioritäten sehr ungleichmäßig.

Mitte der siebziger Jahre konnte im Vergleich zum Jahr 1965 eine Vervierfachung der Schulpsychologen-Stellen von 106 auf 454 verzeichnet werden. Ende der achtziger Jahre geriet der personelle Wachstumsprozess insgesamt ins Stocken, mancherorts wurden sogar Stellen abgebaut. Im Jahre 1990 betrug die Gesamtzahl der schulpsychologischen Fachkräfte 879. Eine Hauptursache für die Stagnation war die damals beginnende Finanzkrise vieler öffentlicher Haushalte.

Seit 1973 wurden auch in den jetzigen neuen Bundesländern beziehungsweise in der damaligen Deutschen Demokratischen Republik Schulpsychologen als Mitglieder des Pädagogischen Kreiskabinetts tätig. Sie vermittelten psychologisches Wissen in der Lehrerfortbildung und berieten Lehrerinnen und Lehrer über die Förderung lernschwieriger und verhaltensauffälliger Kinder. Nach der Wende erfolgte ein Aus- und Aufbau in Kooperation mit den westdeutschen Bundesländern. Es wuchs auch hier zusammen, was zusammengehört.

In den 1990er und 2000er Jahren wurden die Rufe nach mehr schulpsychologischer Versorgung zunehmend lauter. Vor allem die Medien konstatierten einen rapiden Anstieg von Aggression und Disziplinschwierigkeiten und forderten mehr schulpsychologische Fachkräfte. Der STERN stellte 1993 fest, dass die Schule zum Albtraum für Schüler, Lehrer und Eltern geworden sei. Im Fachmagazin PSYCHOLOGIE HEUTE war im selben Jahr zu lesen, dass im Klassenzimmer aufgerüstet werde und Gewalt Schule mache. Der SPIEGEL kam 1995 zum Schluss: Noch nie ist es so schwer gewesen, aus Kindern Erwachsene zu machen. Hinzu kamen ab Ende der neunziger Jahre die bundesweiten Klagen über das schlechte Abschneiden der deutschen Schülerinnen und Schüler in internationalen Leistungsvergleichsstudien wie TIMMS und PISA. In diesem Kontext wurde mehr schulpsychologische Hilfe für Kinder und Jugendliche mit Lern- und Leistungsstörungen dringend angemahnt.

Der sorgenvolle Blick auf die deutschen Schulen erfuhr eine dramatische Verschärfung, als von 2002 bis 2009 mehrere unfassbare Schul-Amokläufe die Seele der Menschen erschütterten und Menschenleben zerstörten. Im Kontext dieser gravierenden Krisenzeit wurde der Öffentlichkeit und der Politik bewusst, wie wichtig die schulpsychologische Hilfe bei der Krisenbewältigung und der Nachsorge ist. In mehreren Bundesländern wurde die Anzahl der Schulpsychologen-Stellen deutlich erhöht, in Baden-Württemberg um das Vierfache.

Trotz der immer noch knappen Ressourcen haben sich seit Beginn der neunziger Jahre das Berufsprofil und das Tätigkeitsspektrum der Schulpsychologie entsprechend dem komplexer werdenden Erscheinungsbild von Schüler- und Schulproblemen deutlich erweitert. Nach wie vor ist die klassische Einzelfallhilfe ein wichtiges Angebot für Schüler, Eltern und Lehrer. Hinzugekommen sind in den letzten drei Jahrzehnten viele neue Tätigkeitsfelder wie die pädagogisch-psychologische Lehrerfortbildung, die Förderung der Lehrergesundheit, die Schulleiter- und Lehrersupervision, das Lehrercoaching, die Moderation von Schulkonflikten, die Gewaltprävention sowie die Krisenintervention. Darin sichtbar wird der Paradigmenwechsel, den unser Kollege Helmut Heyse Ende der achtziger Jahre propagiert hatte: die Neuausrichtung der Schulpsychologie auf die Schule als System.

Die deutsche Schulpsychologie ist zu einem unverzichtbaren Beratungs- und Unterstützungssystem der Schule geworden. Wie aus den Tätigkeitsberichten der Schulpsychologischen Dienste zu entnehmen ist, wird die schulpsychologische Beratung stark nachgefragt. Seit 2011 hat sich die Gesamtzahl der schulpsychologischen Vollzeitstellen von 1232 auf 2002 erhöht. Das ist eine Steigerung um 62%. Die Schulpsychologen-Schüler-Relation beträgt 1:5439. Zwischen den Bundesländern variiert der Versorgungsgrad signifikant.

Das 1973 von der Kultusministerkonferenz gesetzte Versorgungsziel 1: 5000 als Mindeststandard ist allerdings immer noch nicht ganz erreicht - obwohl Wirksamkeitsstudien zeigen, dass intensive schul psychologische Arbeit Schulprobleme deutlich verhindern und bewältigen hilft und somit auch Kosten gespart werden. Jene OECD-Länder, die bei PISA und anderen internationalen Schulleistungsvergleichen besonders gut abschneiden, hatten dies längst erkannt und eine wirksame schulpsychologische Versorgung aufgebaut. Ihr Versorgungsstandard beträgt 1:1000.

Dass es trotz systemischer Wachstumsprobleme deutliche Fortschritte gegeben hat, ist sicherlich auch einer engagierten Interessenvertretung zu verdanken. Die Sektion Schulpsychologie des Berufsverbandes Deutscher Psychologen setzt sich seit Jahrzehnten in Kooperation mit den Landesverbänden und darüber hinaus im lernenden Austausch mit der Internationalen Schulpsychologen-Vereinigung ISPA für die Stärkung unseres Fachdienstes intensiv ein.

Am Ende meines Vortrags möchte ich noch kurz eine mir oft gestellte Frage beantworten, was nach 1945 aus dem ersten deutschen Schulpsychologen Hans Lämmermann geworden ist. Nach dem Kriegsende war er zunächst im Schuldienst tätig, zwischendurch auch kurze Zeit in der Lehrerausbildung, bis er im Jahre 1950 vom badischen Kultusministerium zum Professor für Pädagogische Psychologie an der Pädagogischen Akademie Gengenbach ernannt wurde. Wie aus verschiedenen Korrespondenzen, die Hans Lämmermann mit dem Mannheimer Schulamt geführt hatte, hervorgeht, war er an einer Wiedereinstellung als Schulpsychologe zumindest eine Zeitlang interessiert. Einer Mitgliederliste der Sektion Schulpsychologie des Jahres 1958 ist zu entnehmen, dass er sich unserer Professionsgemeinschaft weiterhin zugehörig fühlte. Der erste deutsche Schulpsychologe verstarb am 6. Februar 1972 an seinem letzten Arbeitsort in Gengenbach.

Meine Reise durch die Geschichte der Schulpsychologie ist zu Ende. Vielen Dank fürs Zuhören.

[Dr. Gustav Keller]

Literatur

  • Ingenkamp, K.: Geschichte der Pädagogischen Diagnostik. Band 1: Pädagogische Diagnostik in Deutschland 1885-1932. Weinheim 1990.
  • Keller, G.: Das Klagelied vom schlechten Schüler. Eine aufschlussreiche Geschichte der Schulprobleme. Heidelberg 1989.
  • Keller, G.: Die Schülerschelte. Leidensgeschichte einer Generation. Herbolzheim 2014.
  • Lämmermann, H.: Das Mannheimer kombinierte Verfahren der Begabtenauslese. Beiheft 40 zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. Leipzig 1927.
  • Lämmermann, H.: Von der Tätigkeit des Schulpsychologen. Arbeitsbericht des Psychologischen Beraters der Mannheimer Volksschule. Jenaer Beiträge zur Jugend- und Erziehungspsychologie. Heft 8. Langensalza 1929.

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