Hero Image
- Lothar

Meine kleine Revolution

Die hier festgehaltenen Gedanken wurden erstmals öffentlich am 24.3.2023 der Mitgliederversammlung der Sektion Schulpsychologie im BDP vorgestellt. Lothar Dunkel berichtet in einem offensiven Impulsvortrag über seine Sichtweise, nach 40 Jahren in seiner Tätigkeit als Schulpsychologe und Lehrer, auf das Schulsystem.

Rede vom 24. März 2023

Sichtweisen nach 40jähriger Tätigkeit als Schulpsychologe und Lehrer in Deutschland und Kanada und eigenen Schulerfahrungen in Deutschland und den USA.

Ein System kann nur am Rande des Chaos überleben. Das ist dort wo Tradition und Innovation sich die Waage halten. Zu viel Innovation – keine Chance. Nur noch Tradition – auch keine Chance. (frei nach Heinz-Otto Peitgen, Chaosmathematiker)

![Meine kleine Revolution - Veränderungen im Schulsystem][MeineKleineRevolution-teaser.jpg]

1. Prämissen

Das Deutsche Schulsystem ist nicht reformierbar – alle aktuell diskutierten Reformen werden keine signifikanten Verbesserung erzielen

Das Deutsche Schulsystem ist nur revolutionierbar – es müssen weitreichende grundsätzliche strukturelle Veränderungen erfolgen

2. Erinnerung

Hier wurde vor über 50 Jahren klar formuliert, wie das Schulsystem zu verändern ist:

  • Heinrich Roth (Hrsg.), Begabung und Lernen. Ergebnisse und Folgerungen neuer Forschungen, 6. Auflage 1971, ISBN 3129268405, Reihe: Deutscher Bildungsrat – Gutachten und Studien der Bildungskommission Bd. 4, 594 Seiten

Umgesetzt wurden halbherzige Reförmchen.

3. Meine Forderungen

  1. Umwandlung aller klassischen dreigliedrigen weiterführenden Schulformen und ihrer unsinnigen Ergänzungen zu Gesamtschulen im Stil des Gesamtschulmodellversuchs in NRW von ca. 1970 bis 1985. Entgegen der vielen Lobhudelei ist das Gymnasium die destruktivste/schädlichste aller Schulformen:
    1. Es produziert eine Unmenge negativer Lernerfahrungen und desaströser Schulkarrieren.
    2. Durch den ungerechtfertigten Elitenimbus und die Überhöhung des Gymnasial-Abiturs können alle Nicht-Gymnasien nur noch suboptimal arbeiten.
    3. Die Gymnasialdebatte – G8/G9, Abitur – drängt weit wichtigere Bildungsthemen wie Vorschulbildung oder Inklusion in den Hintergrund und raubt dem System alle Kraft hier tätig zu werden. Nicht fuck you goethe – aber fuck you gymnasium
  2. Alle Lehrpersonen befinden sich in in einer gleichen/gleichwertigen Besoldungsskala, in etwa wie früher A12 – A16. Gleichzeitig Angleichung der Erzieher:innenausbildung über 10 oder 20 Jahre. Personen, die im System sind können sich über Weiterqualifizierungen auf die o.a. Besoldungsskala hinbewegen. Neu studierende Erzieher:innen folgen den gleichen Eingangs- und Qualifizierungstandards wie Lehrpersonen. Der Begriff Erzieher:in verschwindet nach und nach und wird mit Lehrperson ersetzt. Die Lehrinhalte für die Jahrgangsstufen – Alter 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 …. – ändert sich prinzipiell nicht.
  3. (Modell ist NRW. Analog sollte in anderen Bundesländern verfahren werden.) Abschaffung des Förderalismus im Schulwesen, hin zu ein wenig Zentralismus und ganz viel Kommunalwesen. Heisst: Schulministerien der Länder und Schulabteilungen der Bezirksregierungen werden abgeschafft. Verteilung des freiwerdendem Personals – 10% gehen in das Bundesbildungsministerium zur Erarbeitung bundesweiter Richtlinien für das Schulwesen. 90% werden Beschäftigte der Kommunen. Die Kommunen sind eigenverantwortlich für ihre Schulen. Ebenso werden alle Lehrkräfte Beschäftigte der Kommunen. Hiermit erübrigt sich auch die dringend notwendige Auflösung der KMK, die ja aktuell (Januar 2023) mit ihren Vorschlägen zur Behebung des Unterrichtsmangels (Achtsamkeittrainings für Ls, Erhöhung der Stundenzahl, Rekrutierung von Ruheständler:innen, mehr Quereinsteiger:innen und ausländische Ls) starke Argument für die eigene Auflösung empfohlen hat.
  4. Ganztagsschule – Schule ist generell und prinzipiell eine Ganztagsveranstaltung für alle (Kinder/Jugendliche, Lehrpersonen, Schulleitung). Lehren und Lernen erfolgt den ganzen Tag über. Deswegen ist die seit ca. 20 Jahren erfolgte Vermüllung des Schulbetriebs mit ausserschulischem Aufbewahrungs-, Betreuungs- und Bespassungspersonals nicht mehr notwendig. Diese Personen können wieder den vielen Aufgaben ihrer Herkunfstorganisationen zugeführt werden. Insgesamt wird hierdurch die Professionalisierung von Schule gefördert anstatt einen Ausverkauf und die Abgabe der Aufgabenverantwortung für das Bildungs-/Schulsystems zuzulassen.
  5. Lehrer:innenausbildung: Entschlackung des verkopften und theoretischen Lehramtsstudiums – hin zu – 1/3 Theorie und Inhalte wie bisher, 1/3 Pädagogik und Psychologie, 1/3 Praxisarbeit an Schulen. Mit einem Bachelor Abschluss sind die Lehrer:innen fertig und bekommen eine ganz normale Anstellung. Das Macht- und Herrschaftsinstrument Referendariat entfällt. Lehrer:innen, die einen Masterabschluss machen möchten können dies tun. In der Schule sind Bachelor- und Masterlehrer:innen gleichgestellt. Der höheren Qualifikation kann eine etwas höhere Vergütung folgen. Hierdurch wird die hohe Lehramtsstudienabbrecherquote verringert. D = 30.000 Absolvent:innen/Jahr.
  6. Jahrgangswiederholungen gibt es im Prinzip nicht. Wenn eine Schule oder auch Eltern eine Jahrgangswiederholung wünschen, sind alle das Kind unterrichtenden Lehrpersonen, Schulleitung, Schulpsychologie, Schulsozialarbeit, externe Fachleute und eine unabhängige Vertreter:in des Kindes zu hören. Wenn keine einvernehmliche Entscheidung erzielt werden kann, geht das Kind in die nächsthöhrere Stufe. Wenn am Jahresende Defizite bestehen werden diese im Sommer in 4 oder 3-wöchigen Förderkursen ausgeglichen. Folge: Die verbindliche Sommerferienzeit für Lehrer:innen reduziert sich auf 2 oder 3 Wochen. Sie erhöht sich, wenn keine Förderkurse notwendig werden.
  7. Schulen legen jährlich öffentlich in der Presse folgende Zahlen vor:
    • Anzahl der Schüler:innen die das Klassenziel nicht erreicht haben
    • Anzahl der Schüler:innnen die die Schule verlassen haben – wohin? Gründe?
  8. Abschlussprüfungen nach Klasse 10 und 12/13 Abitur entfallen... Entscheidungen erfolgen aufgrund vorliegender Daten/Fakten.
    • Argumente zu 8. (Fokus sind Abiturprüfungen):
      • Die Schule hat 9 (8) Jahre lang Informationen über die Schüler:in gesammelt und ihn/sie mehrere hundert Mal in verschiedensten Fächern getestet. Die Leistungsfähigkeit der Schüler:in ist somit hinlänglich und mehr als sicher bekannt. Aufgrund dieser Daten kann sehr zuverlässig entschieden werden wer den Abschluss nach 10 oder das Abitur bekommt und wer nicht. Eine weitere Prüfung (Abiturprüfung) ist vollkommen überflüssig.
      • Vor den Abiturprüfungen besteht für mehr als 95% aller Kandidat:innen bereits fest, dass sie die Prüfung bestehen werden. Da bei allen Entscheidungen es immer eine Fehlergenauigkeit (Toleranz) gibt, die im allgemeinen mit 5% beziffert wird, kann also mit der Abiturprüfung lediglich in diesem sowieso nicht definitiv feststellbaren Bereich eine weitere Entscheidung gefällt werden. Sie ist somit genau so sicher und sinnvoll wie eine zufällig getroffene Entscheidung.
      • Der Notenunterschied zwischen vor der Abiturprüfung und nach der Abiturprüfung ist für die meisten Schüler:innen minimal. Die minimalen Abweichungen gehen sowohl nach oben als auch nach unten und geben in keinster Weise eine verlässlichere Aussage über den wahren Leistungsstand wieder als ohne diese Abweichung (s. Fehlergenauigkeit oben).
      • Der zu betreibende Aufwand für ein Abitur ist immens: Erstellung der Abiturklausuren, Einreichen der Abiturklausuren, Sichtung und Genehmigung der Abiturklausuren, die Abiturprüfungen an sich, Korrektur und Co-Korrektur der Abiturklausuren... all das für einen in einigen Einzelfällen minimalen Erkenntnisgewinn über die Schüler:in... eher strebt der Erkenntnisgewinn gegen null. All diese Energie und Zeit kann für guten Unterricht verwendet werden.
      • Abiturprüfung als repressives Herrschaftsinstrument arbeitet nach dem Selektionsprinzip und nicht dem Prinzip des Förderns: Schule macht sich mit den Abiturprüfungen wichtig. Die Lehrer:innen zelebrieren ihre hohe Herrschaft. Dies spiegelt ein mittelalterliches, pädagogisches Verständnis wieder. In einer modernen Pädagogik, in der die Lehrperson die Lernbegleitung und Förderung der Schüler:in zum Ziel hat, spielt eine ex oder hopp Prüfung wie das Abitur keine Rolle, oder ist sogar eher kontraindiziert.
      • All diese Argumente sind ein Hinweis auf die Fragwürdigkeit der Abiturprüfungen. Diese Fragwürdigkeit wird in der aktuellen Corona Situation noch um ein mehrfaches fragwürdiger, oder anders ausgedrückt, mit dem Druck diese sinnlose Prozedur unbedingt durchzuführen werden Menschenleben gefährdet und eine ganze Nation weiter und länger an die Kette gelegt.
      • Dass die Abiturprüfungen Zufallswillkürveranstaltungen sind zeigt sich durch folgende Diskrepanz während der Corona-Schulschliessungen: Auf der einen Seite wird berichtet, dass die Lernfortschritte der Schüler:innen stark reduziert waren, auf der anderen Seite steigt inflationär die Quote der 1er Abis.

Dunkel, L. (2023) Veränderung des Deutschen Schulsystems (pdf)